Sind Grabstätten Orte der Begegnung? Über die Szenographie von Friedhöfen

Laura Kühnl
15 min readJul 18, 2020

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Hauptfriedhof Mainz

Begegnung durch Szenographie?

„Man könnte viele Beispiele für unsinnige Ausgaben nennen, aber keines ist treffender als die Errichtung einer Friedhofsmauer. Die, die drinnen sind, können sowieso nicht hinaus, und die, die draußen sind, wollen nicht hinein.“ [1] Der amerikanische Schriftsteller Mark Twain verweist mit diesen vielzitierten Sätzen auf eine Friedhofsmauer als Abgrenzungsmittel zwischen Verstorbenen, welche diesen Ort nicht verlassen können und Lebendigen, welche diesen Ort aufgrund deren Assoziation mit der eigenen „Endstation“ des irdischen Lebens meiden. Sepulkralkultur lässt sich jedoch in allen Völkern über Epochen hinweg wiederfinden und bestätigt somit die anhaltende Bedeutung von Begräbnissen und Gedenkpraxen für „die da draußen“. Sie pflegen die Gräber der Toten, nutzen diese als historische Quellen oder machen von der grünen Anlage als Spazierweg Gebrauch. Mit seiner Unterscheidung zwischen „drinnen“ und „draußen“ kennzeichnet Twain die Friedhofsmauer als Teil räumlicher Gestaltung, welche diesen Platz von der Außenwelt abtrennt und somit eine Grenze architektonisch sichtbar macht. Grabstätten verschiedenster Art weisen jedoch nicht nur offensichtliche, sondern auch unsichtbare Grenzen architektonisch auf, welche bei einem Friedhofsbesuch erfahrbar werden und Handlungen beeinflussen. Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich mit der Frage, ob und wie der Friedhof zu einer Stätte der Begegnung wird. In einem ersten Schritt wagt sich die Arbeit an Begriffsbestimmungen heran, um anschließend den Hauptfriedhof Mainz zu untersuchen und ihn den Katakomben von Paris gegenüber zu stellen, welche als szenographische Manipulation kritisch beleuchtet werden. In einer zweiten Analyse wird festgestellt, wie man einem Toten „begegnen“ kann und ob der Ort hierbei eine tragende Rolle spielt.

Die Szenographie eines Ortes

Zunächst bedarf es einer Definition des Begriffes „Ort“. Der französische Kulturphilosoph Michel de Certeau definiert ihn als „eine momentane Konstellation von festen Punkten“, welcher durch eine Eigenständigkeit und Statik gekennzeichnet ist. „Die einen Elemente werden ‚neben‘ den anderen gesehen, jedes befindet sich in einem ‚eigenen‘ und abgetrennten Bereich, den es definiert.“[2] In seiner Begriffsbestimmung verweist er darauf, dass der „reglose Körper“ ein abendländischer Innenbegriff für einen Ort gesehen wird. So gesehen ist der christliche Friedhof, wie wir ihn in der deutschen Kultur kennen, durch die Objekte, die einzelnen Gräber, ein System von geographischen Orten, welche durch Grenzen voneinander getrennt sind.[3] Variable Elemente, wie Zeit oder Geschwindigkeit, machen den Ort zu einem beweglichen Gefüge. Durch Aktivitäten und Ereignisse wird der Ort zu einem Raum, welcher „von der Gesamtheit der Bewegungen erfüllt [ist], die sich in ihm entfalten.“[4] Erika Fischer- Lichte schreibt dem Ort eine Performativität zu, wenn dieser sich durch Wahrnehmung und Dynamik über dessen geometrischen Grundriss hinaus zu einem instabilen, fluktuierenden Raum erstreckt, den sie „performativen Raum“ bezeichnet.[5] Die Sichtbarmachung des performativen Raumes geschieht durch inszenographische Maßnahmen:

Szenographie, konzipiert und realisiert von Vertretern der räumlichen, darstellenden und inszenierten Künste, verstehen die Autoren so als kulturelle Praxis und Theorie der Gestaltung performativer Räume in den Bereichen und an der Schnittstelle von Architektur, Theater, Ausstellung und Medien […].[6]

Inszenatorische Mittel evozieren einen performativen Raum, da der durch den in sich „eingeschriebenen Ereignischarakter“ Atmosphären produziert. [7] Licht, Laute und Anwesenheit sind solche Atmosphären, welche Grenzen erzeugen oder durchbrechen und eine Machtstruktur hinsichtlich der Bewegung auf der Grabstätte kenntlich machen. Diese begünstigt oder verhindert eine Konfrontation mit anderen Besuchern. Im Folgenden werden zwei verschiedene Grabstätten auf ihre Szenographie untersucht und als „Orte der Begegnung“ kritisch betrachtet.

Hauptfriedhof Mainz- ein sozialer Begegnungsort?

Der Hauptfriedhof verfügt über einige gepflasterte Hauptwege. Die Fläche, auf welchen sich die Gräber befinden, hebt sich durch das Gras zwischen ihnen von den Hauptwegen ab. Die verschiedenen Untergründe markieren den Anfang und das Ende eines spezifischen Raumes und zeigen somit die elementarste Funktion räumlicher Grenzen auf. Der Hauptweg dient zur Fortbewegung, er soll den Besucher an sein Ziel führen. Durch die räumliche Vorgabe hinsichtlich der Wegstrecke wird einer willkürlich gewählten Route des Besuchers, welche zwischen den Gräbern auf der Grasfläche verläuft, vorgebeugt.[8] Warum soll die Nutzung der Fläche zwischen den Gräbern als Gehstrecke verhindert werden? Gräber weisen nicht nur sichtbare Grenzen durch ihre Umfriedung von angrenzenden Gräbern oder Grünflächen auf, sondern auch unsichtbare Grenzen durch Atmosphären der Trauer. Laut Erika Fischer-Lichte ermöglichen Atmosphären „eine ganz spezifische Räumlichkeit“, welche sich nicht „unter Rekurs auf einzelne Elemente des Raumes erklären [lässt].“ [9] Sie verweist hierbei auf Gernot Böhmes Definition von „Sphären der Anwesenheit“.[10] Atmosphären seien zwischen den Objekten, von welchen sie geglaubt seien auszugehen und den Personen, welche sie fühlen und „in beiden zugleich“.

Die Form eines Dinges wirkt […] auch nach außen. Sie strahlt in die Umgebung hinein, nimmt dem Raum um das Ding seine Homogenität, erfüllt ihn mit Spannungen und Bewegungssuggestionen.[11]

Die auf dem Friedhof entstehende Atmosphäre der Trauer, welche zwischen einem Grab und einer Person liegt, wird durch Teilhabe an dem Gefühl des Verlusts nachempfunden und konstituiert somit eine flüchtige Grenze. Die Hauptwege können nach Divjak als Teil „kontextspezifischer, systemimmanenter Raumgestaltung und die in sie eingeschriebenen Machtverhältnisse“[12] gesehen werden. Diese Raumgestaltung sorgt auch dafür, dass der Blick aufgrund der zu den Hauptwegen orthogonalen Ausrichtung der Gräber rechts und links nicht frontal auf ein Grab gerichtet ist, wie es beim Gehen zwischen den Gräbern der Fall wäre. Es lässt sich also feststellen, dass die Hauptwege des Friedhofs zugunsten der Privatsphäre eines Trauernden oder einer Trauerfamilie angelegt sind. Jedoch fördert dieselbe Machtstruktur zugleich Begegnungen, da sie, anders als bei einem Gang zwischen den Gräbern, keine Ausweichmöglichkeiten und alternative Routen aufzeigen, ohne die atmosphärischen Grenzen zu brechen. So begegnet man sich auf dem Weg zu einem Grab beim Spazieren, Joggen oder Transport von Pflanzen, jedoch nicht im Moment des Gedenkens.

Die Hauptwege des Mainzer Hauptfriedhofs werden durch die umgebenen Bäume zu Alleen und beeinflussen die Begegnungsmöglichkeiten negativ. Sie verhindern eine komplette Lichtdurchflutung des Ortes, wozu Erika Fischer-Lichte schreibt: „[…] Seit der Einführung der künstlichen Beleuchtung […] wurde Licht im Theater eingesetzt, um besondere, auf den Raum bezogene Erfahrungen beim Zuschauer hervorzurufen.“[13] Im Gegensatz zu einer Theaterbühne wird auf dem Friedhof die Atmosphäre nicht durch künstliches Licht erzeugt und beeinflusst, aber dennoch als bewusst platziertes Mittel eingesetzt, um die Fläche durch die Verdunkelung zu verdichten und eine beruhigende, friedliche Atmosphäre herzustellen. Durch die Verdichtung verhindern die Bäume als Element der räumlichen Anordnung einen weitsichtigen Blick über die Gräberlandschaft und sorgen somit trotz mehrerer Besucher für ein unbeobachtetes Gefühl und beugen einer Begegnung mit anderen Besuchern voraus.

Der Hauptfriedhof in Mainz ist teils von einer Mauer, teils von Zäunen und Büschen umgeben, welche den umfriedeten inneren Raum sichtbar vom Raum der Stadt abgrenzen. Um die Ruhe der Verstorbenen zu respektieren, gilt der Friedhof als ein Ort der Stille, an welchem keine lautstarken Geräusche, wie Singen oder Schreien, produziert werden. Unter dieser Voraussetzung sind es nicht nur die oben genannten architektonisch sichtbaren Grenzen, welche das „Innen“ und das „Außen“ unterteilen. Nach Fischer-Lichte lassen „Hör-Räume“ zudem eine „Entgrenzung des performativen Raumes“ zu, sie lösen also die Grenzen eines Raumes durch die Laute auf.[14] Der Friedhof dehnt sich in dieser Hinsicht nicht über den geometrischen Raum hinaus und erweitert diesen nicht.

Die räumliche Gestaltung des Hauptfriedhofs in Mainz provoziert keine Interaktion zwischen den Besuchern, sondern begünstigt deren Privatsphäre im Akt des Trauerns und Gedenkens. Lediglich die Hauptwege als „scripted space“ veranlassen die gegenseitige Wahrnehmung beim Gehen[15]. Während die Grenzen auf dem Friedhof als Medien der Gefühlskommunikation dienen, kontrastiert die folgende Grabstätte den performativen Raum in ihrer Szenographie.

Die Pariser Katakomben- Eine szenographische Manipulation

In der deutschen Friedhofskultur ist der konkrete Ort für einen Verstorbenen das Grab, welches sich unter der Erde befindet. Die Materialität der Toten befindet sich nicht mehr über dem Erdboden. Die Katakomben in Paris bilden eine Grabstätte, in welcher sich die Ruhestätte der Toten ebenfalls in einem unterirdischen Bereich verortet. Sie kontrastieren jedoch unserer geographischen Gräberlandschaft, da die Toten versteckt werden und für die Hinterbliebenen unzugänglich sind. Im Jahr 1785 wurde das Begräbnis von circa 6 Millionen Menschen manipuliert und die räumliche Grenze zwischen den Lebenden und den Toten kurzzeitig aufgehoben, um sie dann zu verfestigen[16]. Das Wort Manipulation entstammt den lateinischen Wörtern „manus“ und „plere“, übersetzt als „die Hand füllen“[17]. Im übertragenen Sinne bedeutet Manipulation somit, etwas in die eigene Hand zu nehmen und nicht dem Zufall zu überlassen. Die Pariser Katakomben wurden jenseits der Stadt als Folge der Schließung einiger Friedhöfe zu einem bestimmten Zwecke angelegt. Die Schließung wurde durch die ansteigende Zahl der Bevölkerung und somit der durch Seuchen und Hungersnöte verstorbenen Menschen ausgelöst, für welche auf den Friedhöfen keinen ausreichenden Platz zur Beerdigung der Leichname geschaffen wurden konnte. Zunächst wurde versucht, Leichname in nur halb verwestem Zustand zu exhumieren, da der Platzmangel keine reguläre Ruhezeit für vollständige Verwesung zuließ. Jedoch beeinträchtigten die daraus entstehenden Gerüche die Gesundheit der Anwohner. Die miserablen hygienischen Zustände resultierten letztendlich darin, die Gebeine in unterirdischen Steinbrüchen aufeinanderzusetzen. Diese waren zum Zeitpunkt der Umsiedelung bereits stillgelegt, da die weitreichende Aushöhlung eine Einsturzgefahr des Untergrundes darstellte. In der heutigen Zeit sind ein Teil der Katakomben zwecks Tourismus begehbar, jedoch beruht sich die Untersuchung auf die Umstände und Vorschriften gegebener Zeit der Friedhofsräumung.[18] Die Steinbrüche dienten in ihrer ursprünglichen Funktion dem Bau von Pariser Gebäuden. Nun erfüllten sie eine praktische Aufgabe als Lager. Durch die räumliche Ausgrenzung von dem für die Totenruhe vorgesehenen Ort „Friedhof“ in die außerstädtischen Steinbrüche, kam es hierbei zu einem Vollzug räumlicher Modifikation. Wie zuvor erwähnt, werden die körperlichen Reste eines Toten im Rahmen der christlichen Bestattung in die Erde gelassen, um einen Zersetzungsprozess zu initiieren. Die Materialität der Steinbrüche verhindert diesen Prozess und macht die Toten zu einer gelagerten Ware auf unbestimmte Zeit.[19] Die Steinbrüche in ihrer ursprünglichen Funktion verfestigen sich als räumlichen Ort durch die Lagerung der Gebeine, obwohl der Ort in seiner Architektur unverändert bleibt. Nach Vollendung des Umsiedelungsakts können von Besuchern keine Atmosphären durch Anwesenheit, Licht oder Laute erzeugt werden. In den Katakomben selbst wird die sichtbare Grenze in Form einer individuellen Umfriedung durch die Stapelung der Gebeine verhindert.

Die Distanz zwischen Hinterbliebenen und dem Grab als repräsentativem Objekt und der damit intendierten Unerreichbarkeit der Grabstätte lässt keinen Raum als Produkt sozialer Beziehungen entstehen, sondern wird zu einem Ort des Übergangs. Mit dem „Erwachen von unbewegten Gegenständen […], die durch das Aufgeben ihrer Stabilität den Ort verändern, an dem sie in der Fremdheit ihres eigenen Raumes geruht haben“ wird eine Grenze überschritten, erneuert und letztendlich verfestigt durch Machtstrukturen.[20] Die Dislokation als stadtpolitische Maßnahme überlässt den performativen Raum, wie er auf dem Friedhof durch Besucher erfolgt ist, nicht mehr dem Zufall, sondern manipuliert die Ruhestätte der Toten zu einem körperlich unerreichbaren Ort. Die sichtbaren Strukturen des Ortes sind nicht nur konzipiert, um eine Begegnung unter den Besuchern zu unterbinden, sondern lassen diese gar nicht erst zu. Die Katakomben sind kein Ort der Begegnung für trauernde Hinterbliebene. Lediglich die Umsiedelung erzeugte eine kurzzeitige Präsentation der Toten und nicht eine Repräsentation wie wir sie normalerweise in unserer Kultur kennen. Im Folgenden wird der Begriff Repräsentation untersucht und der Frage nachgegangen, ob Grabstätten ein Ort der Begegnung mit den Verstorbenen sind.

Die Begegnung mit dem Toten

Der Friedhofsbesuch ist meist mit der konkreten Intention einer Gedenkpraxis verbunden. Der Ort wird aufgesucht und durch seine Eingänge betreten, um dem unterirdisch verorteten und dem für die Lebenden absenten Toten zu begegnen. In den meisten Fällen kann der Körper genau an dieser Stelle lokalisiert werden, im Falle eines Denkmals jedoch sind die leiblichen Überreste an einer anderen Stelle verortet, welche entweder unbekannt, oder, aus Gründen der Distanz oder Zugänglichkeit, nicht erreichbar sind. An die Stelle der oberirdischen Absenz tritt das Grab oder Denkmal als Objekt, welches die Bedeutung des Verstorbenen trägt. Hans-Ulrich Gumbrecht stellt sich die Frage, wie „das Materielle des Objekts eine Bedeutung [bekommt], die einem körperlichen Subjekt gleicht“. Im Zuge seiner Erklärung vergleicht er die mittelalterliche Auffassung des Menschen in Abhängigkeit von Gott als Schöpfer mit der „frühneuzeitlichen Exzentrizität“, durch welche sich der Mensch gegenüber der Welt der Objekte positioniert und somit „als (von Gott unabhängigen) Produzenten von Wissen über die Welt.“[21] Körper sind nach dieser Auffassung Objekte, während an die Stelle des Subjekts eine geistige, körperlose Herrschaft tritt. Objekte evozieren „Wissensproduktion“ für das Subjekt, welches somit die Interpretation der materiellen Oberfläche des Objekts in Gange setzt.[22] Der Stein und die Erde sind bedeutungsgeladene Oberflächen und werden von den Hinterbliebenen als der Verstorbene interpretiert. An die Stelle der Leere tritt das Grab als repräsentativer Körper. Gumbrecht versteht unter dem Begriff „Repräsentation“ den Hinweis auf etwas Abwesendes, zum Beispiel das Denkmal, während sich eine „Re-Präsentation“ nicht auf die Absenz konzentriere, sondern ein Instrument zur Wieder- Sichtbarmachung von etwas Abwesendem sei.[23] Durch das Objekt wird der Tote präsent und eine Begegnung ermöglicht.

Im Folgenden wird untersucht, ob eine Begegnung abhängig von der Lokalisierbarkeit für die Hinterbliebenen möglich ist.

„Gedächtnis der Orte“[24] — Ortsgebundene Begegnung

„Ein Ort […] hält Erinnerungen nur dann fest, wenn Menschen auch Sorge dafür tragen.“[25]

Die memoriale Kraft einer Grabstätte geht dann verloren, wenn das Grab unterschiedslos in seiner Umgebung aufgeht. Die Pflege eines Grabes bedeutet somit die konstante Vergegenwärtigung des Verstorbenen. Der Ort, an welchem der Tote ruht, kann auf viele verschiedene Weisen angelegt werden.

Das Grab zeigt einen Grabstein mit einem eingravierten Kreuz, darunter die Namen und Daten der Verstorbenen, sowie die Worte „Hier Ruht in Frieden“. „Hier“ ist ein deiktisches Mittel, welches wie ein Zeigefinger auf diesen spezifischen Ort hinweist. Diese Aufschrift verankert den Ort und sorgt für den Vollzug eines Erinnerungsakts an dieser Stelle. Aleida Assmann erklärt das „solche Schrift vom spezifischen Ort nicht nur nicht ablösbar [ist, sondern] sie ist selbst das Wahrzeichen räumlicher Unverrückbarkeit.“[26] Das „Hier“ garantiert für die Hinterbliebenen die Präsenz des unterirdisch ruhenden Toten und macht diesen Ort zu einem heiligen. Die Wörter deuten darauf hin, dass dem Toten an diesem Grab nicht nur erinnert wird, sondern dieser „hier“ angetroffen wird. Die Namen der Toten fungieren als Gedächtnisstütze, denn Totenmemoria kann nur praktiziert werden, wenn der Tote identifiziert ist. Laut Aleida Assmann ist die Aufschrift eine „[…] Waffe […] gegen den zweiten, sozialen Tod, das Vergessen.“[27] Das Grab und dessen Gestaltung gehen mit dem Bedürfnis einher, der Erinnerung an den Toten einen ästhetischen Ort zu reservieren um die emotionale Verbindung zu dem Toten auszudrücken.

Auf dem Grabstein befinden sich neben einer Kerze drei weitere Gegenstände: zwei Puppen und ein Stein in der Form eines Herzes. Sie stellen einen individuellen Bezug zu dem Toten her und sind, wie auch die Schrift, eine Gedächtnisstütze für die Hinterbliebenen. Die stofflichen Gegenstände können dem Verstorbenen als Geschenk an diesem Platz übergeben werden, da sich die leiblichen Überreste hier befinden. Aleida Assmann nennt die ortsfeste Gedenkpraxis das „Gedächtnis der Orte“ und stellt es dem „Gedächtnis der Monumente” gegenüber. Letztendlich ist festzuhalten, dass das Grab zwar keine körperliche Begegnung mit dem Toten ermöglicht, die visuellen materiellen Objekte jedoch als Index eine gedankliche Begegnung evozieren und diesem Gedenken einen konkreten Platz reservieren.

„Gedächtnis des Monuments“ [28] — Ortsunabhängige Begegnung

Unter einem Denkmal wird in diesem Kontext ein architektonisches Objekt verstanden, welches „gewollt“ errichtet und an einem Ort platziert wurde, um einer Person, einem Kollektiv oder einem Ereignis zu gedenken. Das Denkmal für die Verunglückten des Fluges 447 der Fluglinie AirFrance im Jahr 2009 befindet sich auf dem Friedhof Père Lachaise in Paris. Die äußere Gestalt besteht aus einer Glasplatte mit den Flugdaten, 228 Vögeln, den Herkunftsländern der Verunglückten und einem Sockel aus Granit, auf welchem die Namen der Verstorbenen eingraviert zu lesen sind.[29] Im Gegensatz zu der Ruhestätte eines Toten existiert das erinnernde Monument nicht in der Gegenwart des unterirdischen Toten, sondern basiert rein auf der Erinnerung an diesen. „Das Monument […] lenkt die Aufmerksamkeit vom Ort auf sich selbst als repräsentierendes Symbol.“[30] Es ist ungebunden an die geographische Stelle und substituiert den Toten in Form eines Objekts. Jedoch erinnert das Objekt in seiner ästhetischen Gestalt die Hinterbliebenen lediglich an eine Momentaufnahme aus dem Leben des Toten, den Flug mit Abflug- und geplanter Ankunftszeit. Die Vögel repräsentieren die Verstorbenen auf ihrem Weg zum Ziel. Das Kunstwerk weist durch die Nichtberücksichtigung sämtlicher weiterer Informationen eine Machtstruktur hinsichtlich des Levels, auf welchem sich begegnet wird, auf. Das Grab dagegen kann in seiner abstrakten Form zugunsten der Besucher modifiziert und personalisiert werden. Das Gedenken wird durch rein künstliche Repräsentation evoziert. Repräsentation steht hier im Gegensatz zu Re-Präsentation und „[…] [weist] durch einen Signifikant auf das Abwesende [hin].“[31] Der ausschlaggebende Unterschied liegt hier demnach in der kompletten Absenz des Toten, somit kann kein Körper re-präsentiert werden, der auch unterirdisch an diesem Ort nicht präsent ist. Das Bedürfnis nach Nähe zu dem Verstorbenen kann mit dem Denkmal als ästhetisches Objekt nicht befriedigt werden. Eine Begegnung setzt nicht nur Nähe voraus, sondern auch die Möglichkeit, sich wieder zu distanzieren oder sie sogar zu verhindern. Im Falle des Denkmals ist die Erinnerung an den Toten künstlich erzwungen. Im Gegensatz zu dem ortsfesten Grab, überdauert das Denkmal aufgrund seiner Materialität einen langen Zeitraum, ohne auf Instandhaltung angewiesen zu sein. Eine organische Erinnerung, welche mit den Gesetzen der Natur einhergeht und den Hinterbliebenen die Chance gibt, den Aufarbeitungsakt und Trauerprozess zu beenden, ist nicht möglich. Insofern ein Denkmal an einem städtischen Ort aufzufinden ist, läuft es Gefahr, die memoriale Kraft aufgrund der alltäglichen Gegenwärtigkeit für die Bürger zu verlieren. So steht das Denkmal von Benno Elkan für die Opfer der alliierten Bombenangriffe auf die Frankfurter Altstadt im März 1944 in der Gallus Anlage in unmittelbarer Nähe zum Hauptbahnhof der Stadt, eine hochfrequentierte Gegend.[32] Eine Grabstätte auf dem Friedhof wird jedoch bewusst zum Zwecke der Begegnung mit dem Toten aufgesucht. Das unbewusste Vorbeigehen oder die flüchtige Wahrnehmung des Denkmals kann eine Rationalisierung des Gedenkens zur Folge haben.[33] Die Vergegenwärtigung des Toten besteht im Gegensatz zu dem Grab nicht in dem Index, sondern in dem Zeichen selbst. Da das Zeichen nicht an den Toten gebunden ist, kann es eine „historisierende Betrachtungsweise“ evozieren und entfernt sich von der reinen Begegnung mit dem Verstorbenen.[34] Aleida Assmann spricht dem Begräbnisort eine unnennbare Ausstrahlung zu. Ohne diese reduziert sich die Gedenkstätte auf einen geschichtlichen Ort der Erinnerung, anstatt dem einer Begegnung.

Die Aura, die dem Gedächtnisort seine Weihe gibt, ist in keine noch so kunstfertigen Monumente übersetzbar. Diese sind von Menschenhand und Menschenbewusstsein gebildet; ihre Botschaften sind steinerne Briefe, die einen bestimmten Erinnerungsinhalt an die Nachwelt adressieren.[35]

Fazit- Grabstätte als Möglichkeit der Begegnung

Architektonisch sichtbare und unsichtbare Grenzen machen Grabstätten zu keinem sozialen Ort der Begegnung. Die Szenographie der Orte, welche sie zu performativen Räumen macht, sorgt für Privatsphäre und Anonymität im Prozess des Gedenkens und des Trauerns. Der konkrete Ort, welcher für einen Toten reserviert wurde, ermöglicht die Begegnung zwischen Hinterbliebenen und Toten im verweisenden Index oder Symbol. Die Lokalisierbarkeit des physischen Leibs sieht keine Notwendigkeit zum Erinnern vor, da der Ort an die Präsenz des Toten geknüpft ist und es nicht erst einer Herstellung dieser Verknüpfung bedarf. Argumente, welche gegen eine Begegnung im Zeichen sprechen, werden in der heutigen Zeit als obsolet betrachtet. Aufgrund zunehmender Mobilität der Menschen müssen Möglichkeiten geschaffen werden, einen Friedhof von seiner Zweckbindung zu befreien um eine mobile Begegnung mit verstorbenen Menschen zu ermöglichen. Eine Grabstätte ist dann ein Ort der Begegnung, wenn sie Machstrukturen aufweist, welche eine Bewegung innerhalb des Ortes erlauben und ein Gedenken durch sichtbare Materialität ermöglicht. Jedoch sind Begegnungen in Gedanken mit Toten überall möglich und nicht auf Szenographie und Architektur angewiesen. Der Friedhof stellt als ästhetischer Ort letztendlich nur eine Möglichkeit dar, dem Gedenken und der Trauer einen gesonderten Ort zu verleihen.

[1] Twain zitiert nach Rattner 2008, 235.

[2] De Certeau 1980, 218.

[3] De Cereau 1980, 218.

[4] De Certau 1980, 218.

[5] Fischer- Lichte 2004, 187.

[6] Brejzek et al 2009, 371.

[7] Vgl. Fischer-Lichte 2004, zitiert nach Brejzek et al 2009, 371.

[8] An dieser Stelle wird angenommen, dass diese Vorgaben hinsichtlich der Raumordnung des Friedhofs von Besuchern verstanden werden. Dies geschieht grundsätzlich dadurch, dass sie kulturhistorisch über ein Schema des Verständnismusters verfügen, was sepulkrale Bedeutungsträger anbelangt.

[9] Fischer-Lichte 2004, 201f.

[10] Böhme 1995, 33.

[11] Böhme 1995, 33.

[12] Divjak 2012, 54.

[13] Vgl. www.fu-berlin.de/presse/publikationen/fundiert/archiv/2003_01/03_01_fischer_lichte/index.html

[14] Fischer- Lichte 2004, 216.

[15] Klein 2004, 11.

[16] Vgl. https://help-tourists-in-paris.com/katakomben-paris-geschichte-interessante-infos-zur-geschichte-der-pariser-katakomben

[17] Vgl. https://www.duden.de/rechtschreibung/Manipulation

[18] Vgl. https://www.spiegel.de/reise/staedte/katakomben-von-paris-reich-des-todes-an-der-sein-a-1040294.html

[19] Vgl. https://www.planet-vienna.com/Nekropole/grabstaetten/katakomben/katakomben.htm

[20] De Certeau 1988, 219f.

[21] Gumbrecht 2016, 193f.

[22] Gumbrecht 2016, 193f.

[23] Gumbrecht 2016, 214f.

[24] Assmann 1999, 298.

[25] Assmann 1999, 327.

[26] Assmann 1999, 324.

[27] Assmann 1999, 181

[28] Assmann 1999, 326.

[29] Vgl. https://lost-at-sea-memorials.com/?p=2831

[30] Assmann 1999, 325.

[31] Gumbrecht 2016, 215.

[32] https://www.bff-frankfurt.de/artikel/index.php?id=1394

[33] Vgl. Hillebrand 2001, 59.

[34] Hillebrand 2001, 64.

[35] Assmann 1999, 326.

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